Eine Kindheit in Stolpe – wir waren unser drei
von Uwe – Jens Brauer
Für meinen lieben Enkel Hendrik Uwe Braesch
„Wir waren unser drei“*, wenn ich in den Ferien aus Kiel hinzukam, in den Jahren vor dem Krieg: mein Vetter Helmut wurde 1937 10 Jahre alt, Erich, der Nachbarssohn, 1938, und ich im Jahre 1940.
Jungen in dem Alter haben immer etwas vor, Langeweile gibt es nicht. Bei dunklerem Wetter spielten wir auf dem Hofplatz Messerstich, auch Länderklau genannt, oder „Kippelkappel“. Regnete es gar, hielten wir uns auf dem Heuboden auf oder auch auf dem Hausboden.
Unter dem Dachfenster fanden wir wunderliches Spielzeug: z.B. eine Dampfmaschine und einen Puppenherd, beide aus starkem Blech gebaut und funktionsfähig. Sie mögen meiner Kusine Lisa und meinem Vetter Werner gehört haben, die doch ein gutes Stück älter waren als wir. Was sich in einer großen Truhe befand, wussten wir nicht so genau. Auf jeden Fall eine Menge Briefverkehr, der leider später nicht mehr aufzufinden war.
Wir hielten uns auch gern im kleinen Stallgebäude auf und turnten auf einem ziemlich unsicheren Zwischenboden aus lose liegenden, teils morschen Stangen und Brettern herum. Hier standen ein, zwei Kälber, und in einer kleinen Stallbucht wurden zwei Schweine für den eigenen Gebrauch gemästet. Später hielt Helmut hier, es mag bereits 1942 gewesen sein, viele Angora-Kaninchen mit roten Augen und langer weißer Wolle. Die auszukämmende Wolle bekam irgendeine Sammelstelle für die Wehrmacht..
Aber zurück in die Vorjahre: Helmut, der voller Ideen steckte, baute sich Stelzen, auf denen er, Erich und auch ich, Gehversuche unternahmen. Oder er schwang sich mittels einer langen Stange auf die Mauer, die zu einem geringeren Teil, zwischen Backkeller und Hühnerhagen auf ganzer Länge einerseits, dem Hofplatz von Tietgen andererseits, die Grundstücksgrenze bildete.
Einmal, es mag 1940 gewesen sein, fuhren wir per Fahrrad um den Stolper See herum nach Bornhöved, von dort über Wankendorf zurück. Nach Wankendorf stromerten wir häufiger, über Wege oder Koppeln, die es heute nicht mehr gibt, um uns dort umzusehen. Wenn ich nicht irre, arbeitete Onkel Hans Hamm, der Bruder meiner Tante Emmi, in der dortigen Schmiede, die an einem größeren Teich gelegen war.
Regelrecht besessen waren wir allerdings von der Angelleidenschaft. Schon sehr früh stellten wir einfachste Angeln her, schnitten lange Haselruten aus dem Knick an der Landstraße, durchbohrten einen Flaschenkorken der Länge nach und steckten eine Hühnerfeder hindurch. Die wurde mit einer Schlinge so gehalten, dass der Korken senkrecht im Wasser stehen würde und sich nicht etwa auf die Seite legte. Die Angelschnur war einfaches Band, an welchem nur am Ende ein etwa 30 cm langes Stück durchsichtiger Sehne („Sei“) befestigt wurde, so dass der Fisch den Betrug nicht ohne weiteres wahrzunehmen vermochte. Denn ganz unten befand sich der Haken, auf den der Regenwurm aufgezogen wurde. Fehlte noch das Gewicht, welches den Korken senkrecht halten sollte. Eine oder mehrere Bleikugeln wurden platt gehämmert und um die Angelschnur geschlagen. In der Regentonne unter dem Abflussrohr wurde austariert, bis das „Flott“, der Schwimmer, senkrecht stand.
Ich bin sicher, dass wir mit Angelgeräten dieser einfachen Art auch Erfolg hatten. In der Regel ging der leicht quer gestreifte Barsch („Boors“) an den Haken. Die größeren, sehr schmackhaften aber grätenreichen Exemplare bekam mein Onkel Willi gebraten auf den Teller, an den kleineren erfreuten sich die Katzen, die mit der Beute eiligst verschwanden.
Im heißen Sommer, war es noch 1939 (als ich mit meiner Schwester Karin zu ihrer Erholung insbesondere in St. Peter-Ording im Haus Thüringen untergebracht war) oder bereits 1940, brachen wir zu einer Angeltour entlang des Stolper Seeufers Richtung Depenau auf. Immer hieß es aufpassen: der Gendarm könnte per Rad die Seestraße herunterkommen oder der Fischer mit seinem Boot hinter dem Reet auftauchen. Es hörte sich fast schaurig an, wenn die Ruder dumpf und hohl auf die Bordwand schlugen und sein Nahen ankündigten. Das Angeln ohne Angelschein war verboten, wie wohl heutzutage auch noch. In so einem Fall war es geraten, geduckt, die Angel eben über dem Boden, den Rückzug anzutreten, was einige Male unter Herzklopfen der Fall war.
Unsere Angeln hatten inzwischen eine verbesserte Technik. Die Angelruten waren stabiler, die gekauften rot-weißen Schwimmer aus leichtem Material standen besser im Wasser, und die Sehne war bis über den Schwimmer hoch geführt.
Unsere Expedition begann an der Seestraße. Jeder trug seine Angel, und wir halfen uns gegenseitig, wenn es durch die Koppelzäune ging. Zuerst betraten wir verbotenerweise Privatgelände, das, bis zum See reichend, zur so genannten Villa gehörte, die ich nie gesehen hatte, und die mir deswegen als Phantom ein ungutes Gefühl vermittelte. Wir gingen barfuß, und das faulig riechende, aber warme Wasser des feuchten Untergrundes quietschte durch die Zehen. Die Vegetation stand hoch am bloßen Oberkörper, und die vielen Insekten umschwirrten das Blütenangebot. Vorsicht war bei den Pferdewespen geboten, den Bremsen, die sich so unfühlbar leicht auf die Haut setzten und sich erst durch den schmerzhaften Stich bemerkbar machten. Die heiße Mittagssonne ließ die Luft über unserem Pfad flirren. Welch ein Sommer!
Wir erreichten eine Weidekoppel, und es ging die Rede über Bullen oder auch über Kühe, die ziemlich wild mit Eindringlingen umzugehen pflegten. Diese Reden waren aber wohl auf mich, den Städter, das Greenhorn, gemünzt, was ich leicht den Blicken entnehmen konnte, die Helmut und Erich sich zuwarfen. Wir kamen an die „Boors-Stelle“, wo wir, wie der Name schon besagt, auf guten Biss dieser Fischart hoffen durften. War aber nichts, obwohl wir weit ins Wasser hineinwateten. Hinter einem nur schmalen Reetbewuchs begann das freie Wasser. Als ich mich umwandte, schwamm auf dem Wasser etwas, was nicht dahin gehörte. Einer meiner bodenständigen Kumpels musste sich schnell entleert haben. Wir trugen damals als Angehörige des Jungvolks oder auch von der Schule her schwarze Turnhosen, welche „dieserhalb“ im Wasser schnell zu bedienen waren.
Weiter ging es bis zur Seekoppel, wo die Stelle der „Rittoogs“ (Rotaugen) und der „Brassen“ (Brachsen) war nach Helmuts und Erichs Erfahrungen. Hier war auch die Tränke der Rinder, so dass wir durch gut gedüngten Schlamm zu waten hatten, bevor wir in Wurfweite kamen. Der Tag war wohl zu schön, die Wassertemperatur zu hoch, als dass wir hätten Erfolg haben können. Auf dem Rückweg angelte Erich dann doch noch einige Boors, die er gekonnt tötete und durch die Kiemenöffnungen auf einen schnell angespitzten Stab schob.
All die Jahre angelten wir aber am liebsten an der Seestraße, rechts an den Staketen, einem Stangenzaun, der sich weit über die Wasserfläche schob, damit kein Rind ausbüchsen konnte.
Hier standen wir und sahen häufig des Abends den erfahrensten Angler der Truppe stehen, Hans Stoffer, der damals 40, 45 Jahre alt gewesen sein mochte. Vor dem großen Stein war er bis an die „Diep“ (eine gefährlich plötzlich abfallende Wand) vorgewatet, mit bis an die Knie aufgekrempelten Hosenbeinen. Mit einer überlangen Angelrute schlug er weit auf den See hinaus, bewundert von Mitanglern und Zuschauenden.
Der Krieg kam voran, das Jahr 1942 brachte wieder Veränderungen. Mein Vater war dienstlich nach Rendsburg versetzt, Mutter und meine drei jüngeren Geschwister Karin, Gert und Inge wegen des Bombenkrieges ins Allgäu verschickt worden, während ich den Sommer über wegen des Schulbesuchs (Kiel, Hebbelschule) in Stolpe verbleiben sollte. Helmut begann seine Bäckerlehre in Wankendorf bei Bäcker Bauer. Von Erich sah ich überhaupt nichts mehr und wusste auch nicht über sein Verbleiben. Wie schön im Nachhinein war doch die Stimme seiner Mutter Emmi Tietgen zu vernehmen gewesen, wenn es Zeit war für das Nachhausekommen: „Eri, Feut waschen und to Bett!!!“ hallte es dann vom Berg herab. Da gab es keinen Widerspruch. Und wir, Helmut und ich, gingen gleich mit.
Helmut sah ich gar nicht so oft, wahrscheinlich verbrachte er auch den Feierabend und die Nacht bei seinem Lehrherrn. Möglicherweise nach der Gewerbeschule einmal die Woche kam er nach Hause. Dann setzte ihm seine Mutter eine Riesenschüssel Vanillepudding mit Saft vor, und ich bekam ab. In der guten Stube standen Fanfaren, Landsknechts- und kleine Trommeln. Helmut war Fähnleinführer beim Jungvolk und hatte für einen Fanfarenzug Instrumente vorzuhalten.
So war ich in diesem Sommer von uns dreien meistens allein in Stolpe, geradezu eine Umkehrung der Jahre vor dem Krieg. Wenn es die Zeit oder meine Stimmung erlaubten, angelte ich bereits vormittags an der Seestraße, allein, das Spiel der Wellen mit dem Flott beobachtend. Wenn es schnell zuckte oder sich hinlegte, was Schlüsse zuließ auf den Fisch, der da biss, seine Art und Größe. Ich vermisste Helmut und Erich.
Eines späten Sommer-Nachmittags, es war schwül-warm, sollte ich doch noch einen größeren Angelerfolg haben, größer als jemals bei Helmut oder Erich gesehen! Es war bei den bereits erwähnten Stangen, meinem Lieblingsplatz. Ich hatte einen Wurm aufgezogen und warf die Angel aus. Plötzlich hatte ich einen scharfen Biss und das Flott ging sofort in die Tiefe. Wie üblich wollte ich die Beute über Kopf aus dem Wasser schlagen. Doch der Angelschach bog sich und drohte zu brechen. Da meldete sich von seinem üblichen Platz aus Hans Stoffer: „Du mußt trecken, musst trecken!“ Also ziehen! Der Fisch erschien an der Oberfläche und wehrte sich heftig. Schließlich und unter den Augen der herbeigeeilten Anwesenden und Hans Stoffers lag der Hecht zappelnd an Land. Wohl Hans Stoffers tötete ihn fachgerecht und zeigte den Umstehenden das Gebiss spitzer Zähne. Na, ich war nicht wenig stolz, obwohl, im Vertrauen gesagt, nur das Anglerglück den Hecht an meinen Regenwurm (!) geführt hatte.
Ein städtisch gekleideter, etwas älterer Junge bot mir seine Sportangel gegen meinen Hecht. Nie im Leben hätte ich in diesen Tausch eingewilligt. Meinem Onkel Willi brachte ich den Fisch, der ihn doch so gern aß. Mit Wort und Lob war mein Onkel immer eher sparsam. Aber wie oft hatte er mich als Kind mitgenommen, wenn es mit Pferd und Wagen auf eine der Koppeln ging, und ich neben ihm sitzen durfte. Immerhin brachte mir ein Schulaufsatz eine bessere Note als gewöhnlich. Der fragte nach dem schönsten Ferienerlebnis . „Mein erster Hecht!“ war das von mir erwählte Thema. Es blieb auch mein letzter.
Ein letztes Mal angelte ich, als ich nach dem Kriege wiederum in Stolpe gestrandet war – und was hätte mir auch besseres passieren können -, allein an der Wisch von Augustin, d.h., ich hatte es vor. An einer Baumgruppe weideten Hilde und Hexe, schreckhafte Kriegspferde, die Heine und Fiete abgelöst hatten (Wo waren diese mir so vertrauten Tiere geblieben?). Als ich mich dem Seewasser näherte, attackierten mich die Pferde. Kurz vor mir drehten sie und schlugen mit der Hinterhand aus. Das war eine Warnung, die mir in die Knie ging. Die Tiere beruhigten sich jedoch, und ich watete bis fast zur Reetgrenze, um nicht mit dem Angelgeschirr fest zu kommen. Vor mir lag „de Diep“, das mahnte zur Vorsicht. Zwei schnelle Bewegungen rückwärts retteten mich aus der Situation eines merkbaren Abrutschens. Beute machte ich meines Wissens nicht. Es war der Ausklang einer vergangenen Zeit.
Der Krieg war zu Ende gegangen. Helmut hatte sich freiwillig zum Wehrdienst gemeldet und kehrte nicht zurück. Er war gerade mal 18 Jahre alt geworden.
Erich setzte fort, was er schon in Kindheit und Jugend am liebsten getan hatte. Er bekam einen guten Posten bei der DEA, züchtete Kaninchen und Geflügel. Vor allem aber war er schon morgens zeitig auf dem See und wurde ein Angler höchster Güte.
Ich selbst hatte wohl viel gelesen, trieb erfolgreich Sport, ging manch verschlungene Wege im Durcheinander der Nachkriegsjahre, ehe der Groschen endlich fiel.
Wir waren unser drei – unvergessliche Kindheit!
Uwe-Jens Brauer
*Aus dem Lied der „Bückeburger Jäger“