Die Zeit der Dorfherrschaft von 1815 bis 1892
Im 10. März des Jahres 1815 lagen in Kiel in getrennten Beschreibungen der Dörfer Wankendorf und Stolpe diese zum Verkauf aus der Konkursmasse des Hamburger Domherrn und Kanonikus – und Besitzer des Gutes Depenau – Caspar Heinrich Georg Schlüter vor.
Am 10. Mai 1815 war es in Kiel dann soweit:
Johann Hermann Scheel (1776 -1844), Gerichtshalter in Itzehoe, seit 1804 mit Amalie Sophie Augusta Zagel (1777 – 1821) verheiratet, und von 1810 – 1822 Gutsherr auf Gut Pünsdorf, kaufte neben dem Dorf Wankendorf auch das Dorf Stolpe.
Anwesend beim Verkauf waren ebenfalls die Curatoren der Schlüterschen Masse Herr Heise und Herr Kerstens.
Die juristischen Parteien und die Mehrzahl der Hufner und Insten des Dorfes hatten sich in der Behausung des Stolper Bauervogtes Theeden versammelt. Nachdem die Parteien erklärt hatten, dass dem Kauf für 6 400 Rbthlr. [Reichsbanktaler] nichts entgegenstehe, wurde dem Käufer durch Übergabe eines Glases mit Wasser, eines Baumzweiges, eines Steines und etwas Erde das Dorf symbolisch übergeben.
Aber auch Johann Hermann Scheel war das Glück nicht hold. Schon 8 Jahre später musste auch er verkaufen. Da dieser dem Hamburger Senator Martin Johann Jenisch d.Ä., einem der reichsten Männer Hamburgs, zu der Zeit 70 000 Mark schuldete, kaufte dieser, nachdem die Dörfer Stolpe und Wankendorf in Kiel wieder zum Verkauf auslagen, die beiden für 58 000 Mark.
Das Übergabe-Zeremoniell muss wieder ähnlich gewesen sein.
Doch 4 Jahre später verstarb der Hamburger Senator und vererbte die beiden Dörfer seinen beiden Töchtern Emilie verh. Rücker und Marianne verh. Godeffroy. In den Händen beider Familien verblieb die Dorfherrschaft bis 1892.
Emilie und Marianne Jenisch stammten aus reichem Hamburger Haus. Der Vater hatte mit Handel und Banken, sowie auch zuletzt mit Versicherungen den Reichtum der alten Handelsfamilie vermehrt.
So heirateten die Töchter standesgemäß. Emilie (*1790) heiratete 1816 den früheren dänischen Konsul und Kaufmann Johann Wilhelm Rücker. Er erwarb 1836 das Gut Perdoel. Als er 1847 verstarb, erbte der älteste Sohn Martin Wilhelm Rücker das Gut. Er verheiratete sich mit Auguste Mackeldey aus Bonn. Das Paar hatte 7 Kinder. Als auch er 1879 verstarb, verblieb seine Witwe auf Gut Perdoel, bis sie es 1892 an O. Rocholl verkaufte. So übte sie die Dorfherrschaft über Wankendorf und Stolpe aus. In dieser Zeit veräußerte sie Stück für Stück Ländereien und Häuser in den Dörfern, auch im Auftrag der Mitbesitzer-Familie Godeffroy.
Die jüngere Schwester Marianne Godeffroy (* 1803) hatte um 1823 in die berühmte Hamburger Reederfamilie eingeheiratet. Ihr Ehemann Carl Godeffroy hatte in Schottland Jura studiert und war Gesandter der Hansestädte Hamburg, Bremen und Lübeck in St. Petersburg. Später war er Ministerresident, Botschafter im Rang eines Ministers, für Hamburg in Berlin, wo ihm seine Frau Marianne hin folgte. Im Jahr 1842 erwarb er das Gut Lehmkuhlen bei Preetz. Als er 1847 verstarb, blieb sie in Berlin. Ihr einzig verbliebener Sohn Wilhelm, der lieber Landwirt als promovierter Jurist geworden wäre, erbte Gut Lehmkuhlen. Er vergab an die Witwe Auguste Rücker auf Perdoel eine Vollmacht, dass sie alle notwenigen Entscheidungen bezüglich der beiden Dörfer allein treffen könne. Seine Mutter Marianne indes war eine mehr als wohlhabende Frau, die über ein Vermögen von 2 Mio. Reichsmark verfügte.
Emilie Rücker verstarb 1864, Marianne Godeffroy folgte ihr im Jahr 1871.
Die Zeit der Instenarmut
Nun verfolge man das Geschehen von der Seite der Bewohner der Dörfer. Die Befreiung von der Leibeigenschaft 1805 war ein zweischneidiges Schwert. Sicher waren die Bewohner der Güter frei, aber der Gutsherr war auch von der Pflicht entbunden, für sie zu sorgen. Und Freiheit und Selbstverantwortung lernt man nicht von heute auf morgen. Besonders misslich war die Lage in beiden Dörfern, weil sie dem Gute Depenau nur noch mit der Gerichtsbarkeit unterstanden, aber die weiteren Angelegenheiten der Dorfherrschaft zufielen.
Zudem gab es in beiden Dörfern keine Zuwanderungsbeschränkung mehr, so wie sie auf den anderen Gütern noch bestand. So wurden viele Menschen in die beiden „freien“ Dörfer abgeschoben, aber, wo sollten sie bleiben, und wovon sollten sie leben? Die Dorfherrschaft lebte in Hamburg und Berlin. Und Carl Godeffroy hatte in einer Schrift über die Armut diese als dem Staat notwendig zugehörig beschrieben. Daher war keine Besserung zu erwarten. Die Hausbesitzer und Pächter in den Dörfern machten aus der Not eine Tugend und vermieteten jede mögliche freie Kammer an die Zugezogenen. Diebstahl und Mundraub häuften sich immer mehr. Der Gerichtshalter Boie im Gut Depenau war in seinem Urteil jeweils äußerst milde, sodass von dieser Seite keine Entlastung für die Alteingesessenen kam. So kam es wie es kommen musste: Es gab wieder einmal eine Untersuchung über die Zustände in den Dörfern Wankendorf und Stolpe, die schon seit Menschengedenken als schwierig galten. Hofjägermeister Graf von Baudissin von Gut Sophienhof wurde beauftragt. Ein Resultat war, dass 1854 die Dorfherrschaft 200 Reichstaler für die Linderung der größten Not spendeten. Eine Sammlung ergab noch einmal 200 Reichstaler für die Notleidenden. Es wurden 52 t Roggen für den Winter gekauft. Allerdings war dies nur ein Tropfen auf den heißen Stein, und angesichts der Vermögensverhältnisse der beiden Familien Rücker und Godeffroy eher beschämend.
Die weitere Untersuchung ergab, dass es sich bei vielen Familien um solche handelte, die woanders in den Gütern nicht wohl gelitten waren. Der Bauernvogt von Stolpe Theeden forderte, dass er das Recht erhalten müsse, bestimmte Familien abweisen zu können, was aber zu keinem Ergebnis führte.
Eine Krux der Untersuchung war, dass sich herausstellte, dass die Ursache des kriminellen Übels in Stolpe zu finden war. Auf dem Heiratsberg wohnte eine Familie Horn, die eine 8köpfige Diebesbande darstellte, die jede Nacht auf Raub aus war, und die durch ihr brutales Vorgehen die Leute dermaßen einschüchterte, dass keiner sie anzuklagen wagte. Tischler Petersen aus Wankendorf hat dies in einer wirklich schlimmen, wahren Geschichte aufgeschrieben (Räubergeschichte um 1850).
In der Folge kam es zu Auswanderungen von Stolper Familien nach Nord- und seltener auch Südamerika, vor allem in der Zeit von 1850 bis Ende des Jahrhunderts.
Die ausgewanderten Familien machten dort nach den schweren Anfangsjahren ihr Glück und wurden zu angesehenen Bürgern.
Mit dem Beginn der Gewerbefreiheit 1867 besserte sich langsam die Lage. Viele Handwerker nahmen ihre Arbeit in Stolpe auf, andere verdingten sich als Arbeiter in den aufkommenden Industrien der Städte.
Und so ging das schwierige Kapitel der Instenarmut in Stolpe zuende.
Und auch die Dorfherrschaft erlosch, denn bis zum Jahr 1892 hatte Witwe Auguste Rücker die zu ihr gehörenden Ländereien und Häuser an die Einwohner verkauft. Stolpe war ein freies Dorf, das sich wirtschaftlich ins 20. Jahrhundert hinein entwickeln konnte.