Festrede zur 100Jahrfeier der Sterbekasse Stolpe
Stolpe
Im Jahr 2023 wird der älteste noch existierende Verein in Stolpe, die Sterbekasse von 1923, 100 Jahre alt.
Dies ist ein wahrer Grund, einen Festtag zu begehen, zu feiern, dass eine soziale Errungenschaft des frühen 20. Jahrhunderts bis heute überlebt hat.
Das Jahr 1923 gilt als das Krisenjahr der Weimarer Republik: die Ruhrkrise, die Hyperinflation und der Hitlerputsch in München.
1923 – da war der 1. Weltkrieg gerade erst 5 Jahre vorüber.
Die Ruhrkrise
Im Friedensvertrag von Versailles 1919 wurde Deutschland, das den Krieg begonnen und verloren hatte, zu hohen Reparationszahlungen verurteilt. Besonders Frankreich und Belgien, unter deren Protektorat das Ruhrgebiet stand, stellten fest, dass Deutschland sich immer mehr den Reparationen verweigerte. So marschierten französische und belgische Truppen im Ruhrgebiet ein und übernahmen die Kontrolle. Es folgte auf deutscher Seite ein passiver Streik, vor allem bei den Eisenbahnern. Dieser als „Ruhrkampf“ bezeichnete Konflikt, wurde vor allem von rechten Kräften befeuert.
Da die Arbeiter im besetzten Ruhrgebiet keinen Lohn mehr bekamen, druckte der deutsche Staat unentwegt Geld, um die Arbeiter auszuzahlen. Zudem war der Staat pleite und brauchte Geld. In dessen Folge verstärkte sich die schon seit 1914 bestehende Inflation zu einer Hyperinflation.
Die Hyperinflation
Während 1 Ei im Juni 1923 800 Mark kostete, war das Ei Ende desselben Jahres 320 Milliarden Mark wert.
In Waschkörben transportierten die Menschen ihren Lohn, um ihn sofort in Lebensmittel umzusetzen.
Mithilfe der Hyperinflation entledigte sich der deutsche Staat seiner Kriegsschulden nach innen und außen. Zu leiden hatten darunter besonders die Bürger, die einen Teil der immensen Kriegskosten mit ihren Kriegsanleihen bezahlt hatten. Das Kapital des Staates hätte nur für 2 Kriegstage ausgereicht! Der 1. Weltkrieg jedoch dauerte 4 Jahre, er entwickelte sich zu einer riesigen Materialschlacht, die auf Pump finanziert und in der Hoffnung geführt wurde, den Krieg zu gewinnen. Dann hätte die Siegermacht die Schulden vom Verlierer eintreiben können. Was für eine zynische Berechnung angesichts der insgesamt 17 Millionen Toten weltweit!
Im September 1923 beendete der neu gewählte Reichskanzler Gustav Stresemann schließlich den passiven Widerstand. Eine Währungsreform beendete die Inflation. 1924 endete schließlich auch die Besetzung des Ruhrgebietes durch die Franzosen und Belgier.
Die Währungsreform beendete die Hyperinflation: 1 Billion Papiermark entsprachen nun 1 Rentenmark (RM). Die eigentliche Reform stellt das Münzgesetz vom 30. August 1924 dar, das die „Reichsmark“ (ebenfalls abgekürzt mit „RM“, 1 Rentenmark zu 1 Reichsmark) als offizielles Zahlungsmittel und eine Golddevisenkernwährung als deren Rückgrat festlegte.
Hitlerputsch
Am 8./9. November 1923 nutzte Adolf Hitler mit seiner NSDAP die verworrene Situation aus und putschte in München gegen die Demokratie. Der nationalsozialistische Aufstand wurde jedoch niedergeschlagen und Hitler wurde 1924 des Hochverrats angeklagt und zu 5 Jahren Festungshaft verurteilt.
Die Gründung von Sterbekassen 1923
Das war die Situation, in der sich im Frühjahr des Jahres 1923 die Menschen vielerorts zusammenschlossen, um Sterbe-Unterstützungs-Kassen zu gründen, seien es die Belegschaften von Betrieben wie Bayer in Leverkusen oder Mannesmann in Düsseldorf, oder seien es die Totengilde von Borsfleth oder die Sterbekassen von Elmshorn oder Moorfleth oder – Stolpe. Sie alle waren Versicherungen auf Gegenseitigkeit.
Das teuerste im Todesfall eines Angehörigen war für die Familie der Kauf des Sarges. Am Beispiel von Bergenhusen ist die Preisentwicklung für Särge aufgeführt: Ende 1922 kostete ein einfacher Sarg 540 Mark. Im Februar 1923 musste man schon 3500 Mark berappen. Im November, kurz vor der Währungsreform, waren es sagenhafte 36 Milliarden Papiermark, die ein einfacher Sarg kostete…
Die Gründung der Sterbekasse Stolpe
Am Sonntag des 4. Februar des Jahres 1923 versammelten sich auf Einladung des Gemeindevorstehers 30 besorgte Bürger in der Gaststätte Zum Pfeifenkopf. Es wurde beschlossen eine Unterstützungskasse im Sterbefall zu gründen. Man verschob den offiziellen Gründungsakt auf Sonntag den 11. Februar 1923. Man war der Meinung den Zeitraum einer Woche zu nutzen, um von Haus zu Haus zu gehen und weitere Mitglieder verbindlich zu werben. Denn eines war klar: Eine Unterstützungskasse auf Gegenseitigkeit konnte langfristig nur bestehen, wenn genügend Menschen Beitrag zahlten.
Am Sonntag den 11. Februar 1923 waren 120 Mitglieder anwesend. Nun wurde auch ein Vorstand gewählt:
- Vorsitzender Hermann Holzmann, Schuhmacher
- Vorsitzender Hermann Trede, Krämer
Schriftführer: A. Stender, Gemeindeschreiber
Als Beisitzer wurden gewählt:
Beisitzer:
Willm Willms, Hufner Silgenwisch
Fritz Pries, Hufner Hoheneiche
Gustav Tietgen, Tischler
Johannes Busch, Schiffbauer
Friedrich Sarnow, Gastwirt der Bahnhofswirtschaft
Weiterhin wurden die gestaffelten Jahresbeiträge festgesetzt.
Vollhufner 150 Mark
Halbhufner 100 M.
Insten und im Erwerbsleben stehende Arbeiter 75 M à Person.
Alle übrigen alten Arbeiter, Kätner, Kleinrentner, Witwen und sonstige minderbemittelte Personen à 25 M.
Im Laufe des Jahres 1923 galoppierte die Inflation von Monat zu Monat. Im November verfügte die Sterbekasse über 3 Billionen 80 Milliarden Mark. Im Rahmen der Währungsreform 1924 waren diese 4,68 Goldmark wert.
Die Sterbekasse Stolpe hatte nun insgesamt 199 Mitglieder.
Berichte aus den Protokollen
Ein Jahr später, ausnahmsweise an einem Montag, dem 11. Februar 1924, wurde ein neuer Vorsitzender gewählt: Heinrich Schlüter, Gastwirt und Inhaber von Heins Gasthof, gleichzeitig auch Krämer (Heinehöker genannt) in der Dorfstraße gegenüber dem Hof Böttiger. Er blieb Vorsitzender der Sterbekasse bis 1952. Gleichzeitig fanden alle Versammlungen bis zu dem Zeitpunkt in Heins Gasthof statt.
Im Jahr 1924 gab es drei Sterbefälle. Für ein verstorbenes Kind erhielt die Familie 9 M., für einen Erwachsenen 20 bzw. 32 M. Ab Ende 1925 gab es 50 Reichsmark pro Sterbefall, was sich im Jahr 1927 auf 60 RM. und 1936 auf 80 RM. erhöhte. Die Sterbeliste, die Tischler Heinrich Rieken von 1924 bis 1972 führte, endete mit einer Unterstützungsleistung von 180 DM.
In der Generalversammlung vom 19. Februar 1928 wurden neue Beiträge, diesmal nach Alter gestaffelt, festgelegt:
Bis 30 Jahre – 1 Reichsmark (RM)
30 – 45 Jahre – 2 RM
45 – 55 Jahre – 3 RM
Über 55 Jahre – 5 RM
Diese Beitragssatzung wurde am 17. Februar 1937 korrigiert:
Bis 30 Jahre – 0,50 RM
30 – 40 Jahre – 0,75 RM
40 – 50 Jahre – 1 RM
50 – 60 Jahre – 3 RM
Über 60jährige wurden nicht mehr aufgenommen.
Am Samstag, den 26. Februar 1938 schwangen die Mitglieder der Sterbekasse das Tanzbein. Vom Amtsvorsteher war eine Erlaubnis ausgestellt worden für die Zeit von 20 Uhr bis 1 Uhr morgens. Diese Erlaubnis kostete 10 RM.
Am 5. Februar 1939 wurde der Bäcker und Landwirt Willi Brauer zum stellvertretenden Schriftführer gewählt. Allgemein ist zu sagen, dass in geraden Jahren der Vorsitzende und der Schriftführer gewählt wurden, ihre Stellvertreter in den ungeraden Jahren.
Aus den Jahren 1943 bis 1948 liegen keine Protokolle vor. Sicher sind hierfür die Kriegsereignisse und die anschließende vorübergehende Auflösung der Vereine durch die britische Besatzungsmacht verantwortlich.
Im Jahr 1950 wurde mit den „Richtlinien der Unterstützungs-Sterbekasse Stolpe“ eine neue, moderne Satzung verabschiedet. Die Satzung wurde immer wieder erneuert. So hieß es in den Richtlinien von 1950: „Diese Kasse ist ein Zusammenschluss der Einwohner zu Stolpe, welche bei Sterbefall sich gegenseitig geldlich unterstützen wollen um die öffentliche Fürsorge nicht in Anspruch zu nehmen.“ Nun staffelte sich die Aufnahmegebühr nach Alter: bis 30 Jahre 1 DM, 30 – 35 Jahre 2 DM, 35 – 40 Jahre 4 DM, 40 – 45 Jahre 8 DM und 45 – 50 Jahre 10 DM. Ältere Personen wurden nicht aufgenommen.
Der monatliche Beitrag betrug für alle 0,20 DM, also 2,40 DM im Jahr. Diese Richtlinie von 1950 wurde unterschrieben von Gastwirt Heinrich Schlüter, Tischler Heinrich Riecken und Gastwirt Horst Lippert. Gleichzeitig musste ein Jahresbericht erstellt und spätestens 4 Wochen nach Ende des Geschäftsjahres dem Landrat in Plön vorgelegt werden.
Ab 1952 hieß die Generalversammlung dann Jahreshauptversammlung. Im selben Jahr wurde Sattlermeister Adolf Schlüter zum 1. Vorsitzenden gewählt und löste nach 29 Jahren den Gastwirt Heinrich Schlüter, seinen Cousin, ab. Sein Stellvertreter blieb Krämer Hermann Trede aus der südlichen Dorfstraße.
Zum Kassierer wurde Tischler Heinrich Riecken gewählt.
Schriftführer wurde der Schwiegersohn vom langjährigen Bürgermeister und Gastwirt Friedrich Sarnow, Horst Lippert. Demzufolge wurden in den folgenden Jahren die Jahreshauptversammlungen – bis auf wenige Ausnahmen im Pfeifenkopf – in die Bahnhofswirtschaft in der Bahnhofstraße 1 verlegt.
Am 24.2.1957 wurde in der Jahreshauptversammlung im Pfeifenkopf der Vorstand um ein 5. Mitglied erweitert: Fritz Rönnau aus dem Heiratsberg. Gleichzeitig wurden 5 neue Mitglieder aufgenommen. Seit 1959 wurde die Zeitspanne zwischen den Vorstandswahlen auf 3 Jahre verlängert. Ab 1960 wurden die folgenden Jahreshauptversammlungen wieder in die Bahnhofswirtschaft verlegt, da mit H. Tödt ein neuer Gastwirt tätig war.
1961 traten die Vorboten der Gleichberechtigung mit der Wahl der neuen Kassenprüferinnen an: Sophie Stender und Dora Stoffer vom Heiratsberg.
1962 trat der langjährige stellvertretende Vorsitzende Hermann Trede aus Altersgründen zurück. Für ihn wurde Hans Stoffer, der Ehemann von Dora, gewählt.
In der Jahreshauptversammlung von 1964 wurde das Sterbegeld von 120 DM auf 150 DM erhöht. Nach dem Jahr 1966 brechen die handschriftlichen Protokolle im Protokollbuch ab.
Der kürzlich verstorbene Tischlermeister Adolf Riecken übernahm nach eigenen Angaben 1993 den Vorsitz von Herbert Stölting, über dessen Amtszeit keine Angaben gefunden werden konnten. Über 21 Jahre hielt Adolf Riecken den Vorsitz der Sterbekasse inne, bis 2014 der heutige Vorsitzende Jürgen Ziehmer übernahm.
Er leitet die Stolper Sterbekasse in die Zukunft. In den Jahren 2015, 2017 und 2019 fanden unter seiner Regie jeweils Anfang September Kaffeetafeln am Stolper See statt.
Bei herrlichem Wetter trafen sich die Mitglieder bei selbst gebackenem Kuchen und aufgebrühtem Kaffee um sich in geselliger Runde zu treffen und auszutauschen.
2017 konnten sich die Teilnehmer sogar an einer Partie Boule auf der 2014 neu gebauten Boulebahn ausprobieren. Dieses Angebot wurde gern angenommen.
Am 8.9.2019 fand ein weiteres Sommerfest mit Kaffeetafel am See statt
2020 brachte die CORONA-Pandemie alle Planungen zum Stillstand.
Auch die Jahreshauptversammlung 2021 konnte nicht stattfinden und die Mitglieder wurden im Amtsblatt gebeten, ihre Jahresbeiträge zu überweisen.
Die Kaffeetafeln waren eine gute Maßnahme, die Stolper Sterbekasse auch unter den Neu-Stolpern bekannt zu machen. Denn, wie schon anlässlich der Gründung vor 100 Jahren gesagt wurde, eine Unterstützungskasse auf Gegenseitigkeit funktioniert nur, wenn genügend Mitglieder einzahlen. Gerade jetzt wäre ein guter Zeitpunkt einen Generationswechsel herbeizuführen.
Seit 2023 hat die Sterbekasse Stolpe einen Internetauftritt unter www.stolpe-am-see.de unter dem Menüpunkt Menschen – Gemeindeleben – Sterbekasse Stolpe von 1923. Hier sind historische Dokumente der Sterbekasse, ihre Geschichte und Aktivitäten in jüngerer Zeit zu sehen.
Text: Chronistin Theresia Künstler