Pétanque – von Peter Mayle – 2023

Von Peter Mayle – britischer Schriftsteller, wohnhaft in der Provence + 2018 bei Lourmarin

Seit Urzeiten hat sich der Mensch damit vergnügt, kleine Spielkugeln oder boules möglichst nah an eine Art Ziel oder Setzkugel  heranzuwerfen.

Solche Spielkugeln waren schon 3500 v. Chr. bei den Ägyptern ein beliebter Zeitvertreib. Hippokrates, der Vater der Medizin, empfahl sie zur Leibesertüchtigung, um Kraft und Beweglichkeit zu fördern, und den alten Griechen machten sie so viel Spaß, dass sie der Nachwelt die Bronzestatuette eines Spielers hinterließen, die auf das fünfte Jahrhundert vor Christus zurückgeht. Diese Statuette ist aus mehreren Gründen interessant. Erstens ist der junge Mann splitterfasernackt, ein Anblick, den man auf einem modernen Boule-Platz nur selten zu Gesicht bekommt. Zweitens hält er seine Kugel in der linken Hand, was in einer überwiegend rechtshändigen Welt ungewöhnlich anmutet. Und drittens steht er in der gleichen Körperhaltung da, die ein Spieler auch heute noch annimmt, wenn er den Abwurfkreis betritt und seinen Wurf vorbereitet. Der Arm ist gebeugt, die Kugel wird in Taillenhöhe gehalten, das Auge fixiert die Spielkugel.

Jahrhundertelang war Boule ein Spiel, das von den Mitwirkenden gewisse sportliche Fähigkeiten erforderte. Der Platz war lang, die Kugeln schwer, und die Spieler mussten Anlauf nehmen, um den nötigen Schwung für einen weiten Wurf zu holen. Das änderte sich erst im 20. Jahrhundert, und das Datum ist ziemlich genau bekannt. Es geschah im Juni 1910 in La Ciotat (zufälligerweise der Ort, an dem die Bilder laufen lernten, also der Geburtsort der Kinematografie), einer Küstenstadt zwischen Marseille und Toulon. Das reguläre Boule-Spiel war im Gange, beäugt vom fachkundigen Publikum der lokalen papis – Veteranen, die nicht mehr die Beweglichkeit oder Stärke besaßen, um ein Weitwurf-Spiel durchzustehen.

Niemand bedauerte das mehr als Jules Lenoir, einst flink und behände, nun von chronischem Rheumatismus geplagt, der sich nichts sehnlicher wünschte, als wieder zu spielen; und es war sein bester Freund Ernest Pitiot, der einen Weg fand, ihm diesen Herzenswunsch zu erfüllen.

„Wir machen ein kürzeres Spiel“, schlug Pitiot vor. „Statt beim Werfen Anlauf zu nehmen, spielen wir les pieds tanqués, die Füße geschlossen und fest auf dem Boden.“ Damit war pétanque geboren.

Das Schöne daran ist, dass im Grunde jeder mitmachen und dass es praktisch überall dort gespielt werden kann, wo sich ein mehr oder weniger ebenes Fleckchen Erde findet. Die bevorzugte Bodenstruktur ist harter Sand, in der Provence clapicette genannt, glatt genug, dass die Kugeln rollen, und uneben genug, um einige interessante Abweichungen von der Zielgeraden zu verursachen. Den Boden zu „lesen“ hat Ähnlichkeit mit dem Erkunden eines trickreichen Grüns auf dem Golfplatz.

Das Ziel besteht in einer kleinen Holzkugel mit unterschiedlicher Bezeichnung – but, cochonnet, pitchoune, ministre oder gendarme –, und Sieger sind diejenigen, die am Ende mehr Kugeln näher am Ziel platziert haben als der Gegner.  (Die beste Kugel bringt einen Punkt für die Mannschaft, der die Kugel gehört. Ist die zweitbeste Kugel von der gleichen Mannschaft, zählt sie einen weiteren Punkt usw., bis bei der besten Kugel des Gegners die Zählung abbricht.) Die Mannschaft, die als erste dreizehn Punkte erreicht, hat gewonnen.

Das mag simpel klingen, eine Rentnervariante von Boccia, ein gemütliches Hin und Her ohne dramatische Höhen und Tiefen. Doch weit gefehlt. Das Spiel kann genauso heimtückisch sein wie Krocket. Ein Experte oder auch ein Neuling mit Anfängerglück kann die Kugel-Formation des Gegners mit einem „Bombenschuss“ sprengen, einem direkten Treffer von oben, einer gezielten barbarischen Handlung, die den Gegner zur Weißglut bringt und unverzüglich auf Rache sinnen lässt. Atemlose Spannung erzeugt auch die prekäre und auch oft fragwürdige Messung des genauen Abstands zwischen zwei gegnerischen Kugeln und der kleinen Holzkugel, vor allem, wenn eine Partie auf eine knappe Entscheidung hinausläuft. Ein objektives Urteil ist in Form eines boulomètre à tirette erhältlich, kurz Tirette genannt, ein ausziehbares präzises Messgerät, das nützlich ist und manchmal das letzte Wort hat.

Gewöhnlich ist die strittige Distanz kaum länger als ein Schnurrbarthaar und muss deshalb ganz genau ausgemessen werden. Doch was für den Gewinner genau ist, mag sich aus Sicht des Verlierers anders darstellen, und an eben diesem Punkt kommt die provenzalische Lust auf hitzige Debatten zum Tragen. Die Stimmen werden lauter, die Finger fuchteln erregter, man beschuldigt sich gegenseitig, auf einem Auge blind zu sein, Beleidigungen werden ausgetauscht, und der Friede eines Sommerabends ist nachhaltig gestört. Der Zuschauer macht sich bereit, in Deckung zu gehen, weil Handgreiflichkeiten unvermeidlich erscheinen. Zumindest sieht es so aus, als ob die gegnerischen Parteien nie wieder ein Wort zusammen wechseln werden. Doch fünf Minuten später ist alles wieder eitel Sonnenschein, und das Spiel geht weiter, als sei nichts geschehen.

Pétanque kann auch zwei Mannschaften Spaß machen, die aus blutigen Anfängern bestehen, es gehört zu den wenigen Sportveranstaltungen, die den Teilnehmern gestatten, während des Spiels hin und wieder eine Pause einzulegen, um sich mit einem Gläschen zu stärken. Folglich fördert es Frohsinn und Geselligkeit und wird in der Provence fast immer bei Schönwetter gespielt.

Die Luft ist lau und windstill, die Zikaden zirpen, was das Zeug hält, und die übrigen Klangeffekte – der dumpfe Aufprall einer Kugel bei der Landung, das Klacken, wenn zwei boules gegeneinanderstoßen – haben eine angenehm hypnotisierende Wirkung. Alles ist heiter und friedlich. Bis zur nächsten Debatte.

Aus: Peter Mayle: Die Melonen des Monsieur Dumas … und andere Höhepunkte der Provence

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